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Sollte der verkörperte Kohlenstoff neu gewichtet werden?

Vor nicht allzu langer Zeit spielte verkörperter Kohlenstoff in Gesprächen über Nachhaltigkeit in der bebauten Umwelt eine eher untergeordnete Rolle. Heute ist dieses Thema nicht nur in aller Munde, sondern steht in der AEC-Community vielleicht sogar im Mittelpunkt des Interesses. Oftmals wird ihm bei der Planung von Gebäuden mehr Aufmerksamkeit gewidmet als dem betriebsbedingten Kohlenstoff.

Types of Carbon in Buildings

Die besondere Bedeutung von verkörpertem Kohlenstoff lässt sich auf drei zentrale Annahmen zurückzuführen. Allerdings birgt eine dieser Annahmen erheblichen Spielraum für Fehler. Dies wirft letztlich die Frage auf, ob verkörperter Kohlenstoff die Messgrösse sein sollte, die über allen anderen steht.
 

Die drei Annahmen :

  1. Ein Kilogramm CO2, das heute eingespart wird, ist weit mehr wert als ein Kilogramm, das im Jahr 2030 (2040 oder 2050) eingespart wird. Dies ist unbestreitbar richtig, da uns der Klimawandel zwingt, jetzt drastische Massnahmen zu ergreifen. Einsparungsbemühungen, die erst in Jahrzehnten greifen, werden uns nicht helfen, eine globale Erwärmung um 1,5 °C und die damit verbundenen negativen Auswirkungen zu verhindern. 
     
  2. Der verkörperte Kohlenstoff von Baumaterialien wird einen beträchtlichen Teil unserer globalen Kohlenstoffbilanz aufzehren. Auch diese Annahme ist zutreffend. Wenn wir so weitermachen wie bisher, werden in den nächsten Jahrzehnten allein für die Herstellung der Materialien, die für neue städtische Infrastrukturen benötigt werden, 25–50 % unserer Kohlenstoffbilanz aufgezehrt.
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  3. Das Stromnetz wird immer grüner, und die Gebäude werden immer energieeffizienter, sodass der Kohlenstoffausstoss in den Betrieben immer geringer wird. Diese letzte Annahme ist bis zu einem gewissen Grad korrekt, da wir punkto Ökologisierung des Stromnetzes und Verbesserung der Energieeffizienz von Gebäuden enorme Fortschritte zu verzeichnen haben. Allerdings halten diese Trends nicht Schritt. Davon auszugehen, dass das Problem des betriebsbedingten Kohlenstoffs gelöst ist, ist sowohl eine starke Vereinfachung als auch eine massive Verallgemeinerung. Sehen wir uns das Ganze etwas genauer an.
     

Keine ausreichende Begrenzung des Emissionsanstiegs durch ein grünes Stromnetz

Trotz der beeindruckenden Fortschritte bei der Dekarbonisierung des Energiesektors erfolgt diese weltweit weder schnell noch konsequent genug. Erstens gibt es grosse regionale Unterschiede in der Menge der erneuerbaren Energien, die ins Netz gehen – sowohl auf internationaler als auch auf nationaler Ebene.

Zweitens ändert sich der Energiebedarf, vor allem im Bereich der Raumkühlung. Während dies zum Teil auf den Klimawandel und die Zunnahme extremer Hitzeereignisse zurückzuführen ist, führt die städtische Entwicklung in grossen Schwellenländern zu einem dramatischen Anstieg der Nutzung von Raumkühlung..

Graphique représentant la demande en énergie pour le refroidissement des espaces de 200 à 2022.
Der Energiebedarf für die Raumkühlung ist seit dem Jahr 2000 im Durchschnitt um etwa 4 % pro Jahr gestiegen. 2022 stieg der Energieverbrauch für die Raumkühlung gegenüber 2021 weiter um mehr als 5 %. Mehr als die Hälfte der bis 2030 hinzukommenden Geschossfläche wird in Gebieten der Welt entstehen, die einen hohen Bedarf an Raumkühlung haben und in denen es keine Energievorschriften für den gesamten Gebäudesektor gibt. Quelle: IEA, Final energy consumption and carbon emissions for space cooling by region in the Net Zero Scenario, 2000–2030, IEA, Paris https://www.iea.org/data-and-statistics/charts/final-energy-consumption-and-carbon-emissions-for-space-cooling-by-region-in-the-net-zero-scenario-2000-2030, IEA. Lizenz: CC BY 4.0 

 

Die IEA hat dieses Problem klar und deutig benannt: “Fortschritte bei der Energieeffizienz und der Dekarbonisierung des Stromsektors reichen nicht aus, um den Anstieg der Emissionen im Zusammenhang mit dem steigenden Kühlbedarf einzudämmen”.

 

Die Herausforderung bei der Erzeugung erneuerbarer Energien - Angebot und Nachfrage

Die Ökologisierung des Stromnetzes ist zweifellos von entscheidender Bedeutung. Allerdings haben die meisten erneuerbaren Energiequellen Probleme mit Unterbrechungen und der Abstimmung von Angebot und Nachfrage, die bei konventionellen fossilen Energiequellen nicht auftreten.

Graphique représentant les données de NREL sur les taux d'émissions de Co2
Die NREL-Daten zu den CO2-Emissionsraten (kg CO2/mWh) für die 48 zusammenhängenden Bundesstaaten der USA zeigen erhebliche monatliche und stündliche Schwankungen auf nationaler Ebene.

 

Zwar sind die Herausforderungen in Bezug auf Angebot und Nachfrage auf nationaler Ebene offensichtlich, doch verbergen sich hinter diesen Daten grosse regionale Unterschiede. So ligen die Emissionen in Kalifornien zwischen 4 und 163 kg/mWh, während sie in West Virginia zwischen 135 und 516 kg/mWh liegen.h.

Fazit: Dekarbonisierung lässt sich nicht ohne Kenntnis des Zeitplans und des regionalen Erzeugungsmixes angehen.

 

Hin zu einem ausgewogenen Ansatz

Der verkörperte Kohlenstoff spielt eine sehr wichtige Rolle. Es war längst überfällig, diesem Thema mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Für eine echte Dekarbonisierung der bebauten Umwelt bedarf es jedoch einer Bewertung der Kohlenstoffauswirkungen über den gesamten Lebenszyklus. Dazu gehören sowohl der verkörperte als auch der betriebsbedingte Kohlenstoff (Das ist das Mindeste ..., das Ende des Lebenszyklus ist eine andere Sache).

Auch in einer Zukunft, in der mehr erneuerbare Energien eingesetzt werden, wird es noch fossile Energieträger geben. Das bedeutet, dass das richtige Timing bei der Energienutzung eine immer grössere Rolle für die Kohlenstoffbelastung spielt. Die Bauindustrie muss sich die Frage stellen, wie sie Gebäude errichten kann, die von ersten Tag an kohlenstoffärmer und gleichzeitig anpassungsfähiger für die Zukunft sind. Netz- und letzlich auch kohlenstoffoptimierte Gebäude müssen zur Norm werden. 

Die Gebäudehülle bestimmt massgeblich die Leistungsfähigkeit eines Gebäudes. Die IEA hat diesen Punkt gut zusammengefasst: "Durch klimaangepasste Gebäudehüllen besteht die Möglichtkeit, Gebäude gegen den Klimawandel zu aktivieren." Der Begriff "aktivieren" ist hier besonders wichtig. Bleiben passive Gebäudehüllen, die nicht reagieren, bestehen, beudetet dies, dass der wichtigste Teil des Gebäudes bei der globalen Herausforderung der Bekämpfung des Klimawandels nur zuschaut. Diese Realität ist mit der kohlenstoffarmen Zukunft, die wir brauchen, nicht vereinbar.