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Wie wirkt sich eine freie Sicht nach draussen auf die Gesundheit der Augen aus?

Man looking outside

Bei Arbeiten, die eine längere Konzentration auf nahe gelegene Objekte wie Bücher oder Bildschirme erfordern, kann ein Blick in die Ferne helfen, die visuelle Ermüdung zu bekämpfen.  Was also ist visuelle Müdigkeit und wie kann sie vermieden werden?

 

Der Anpassungsprozess des Auges

Das menschliche Auge hat die Fähigkeit, sich an unterschiedliche Distanzen anzupassen. Dieses natürliche «Fokussieren» sorgt dafür, dass Bilder immer wieder auf der Retina abgebildet werden. Dieses Abbild ist eine Voraussetzung für scharfes Sehen. Das Fokussieren basiert auf einer Verformung der Linsenkrümmung, die durch Kontraktionen der Ziliarmuskeln hervorgerufen wird. Gleichzeitig verkleinert sich die Pupille, um die Tiefenschärfe zu erhöhen.

Bei einem normalen, entspannten Auge kommt das Licht, das von weit entfernten Objekten reflektiert wird, auf der Retina zusammen. Mit anderen Worten: Das Auge ist ohne Probleme in der Lage, Objekte aus grosser Distanz scharf zu erkennen. Bei sehr kurzen Distanzen muss sich das Auge allerdings zuerst anpassen, damit man Objekte scharf sehen, schreiben oder lesen kann. Wenn sich das Auge sehr stark und über längere Zeit anpassen muss, kann das zu visueller Ermüdung in Form von Augenschmerzen oder Migräne führen1. So weit wie möglich in die Ferne zu blicken, erlaubt es dem Auge also, die Anpassung zu unterbrechen und die Muskeln zur Pupillenverengung sowie die Ziliarmuskeln zu entspannen.

Darstellung des Auges in der Entspannung (oben) und während der Akkommodation (unten) (Quelle: guide-vue.fr)

 

Auswirkungen der Augenbewegung auf die Gesundheit der Augen

Die jüngste Publikation von Lisa Heschong2 zu den Themen Tageslicht, Sehen und Sehkraft zeigt uns wieder einmal auf, dass das Auge ein viel komplexeres und raffinierteres Organ ist, als wir es aus dem Biologieunterricht in Erinnerung haben. Das Auge und die Retina gehören zu den energieintensivsten Teilen des menschlichen Körpers. Ausserdem beinhaltet der Prozess der Phototransduktion3 (Umwandlung von Licht in ein elektrisches Signal, das vom Nervensystem weiterverarbeitet werden kann) eine Abfolge von chemischen Reaktionen, die eine intensive und andauernde Energiezufuhr benötigt. Indem die Augen häufig in Bewegung gehalten werden, wird mehr Blut in die Augenmuskeln und in das umliegende Gewebe gepumpt. So kann der erhöhte Energiebedarf gesättigt werden. Bewegungen des Augapfels und der Augenlider (wie beim Blinzeln) tragen ebenfalls dazu bei, den Wasserhaushalt der Augen zu regulieren. Auch wenn ich bisher keine weiteren Publikationen finden konnte, die einen Zusammenhang zwischen der Augenbewegung und der Augengesundheit aufzeigen, erschien mir dieser Aspekt durchaus erwähnenswert.

 

Die «20-20-20»-Regel

Wenn eine Überanstrengung der Augen durch zu lange Arbeit am Computerbildschirm vorliegt, was auch als «Computer Vision Syndrome» bezeichnet wird, wird häufig empfohlen, alle 20 Minuten 20 Sekunden lang auf einen Gegenstand zu starren, der 20 Fuss (rund 6 Meter) von einem entfernt ist. Dabei handelt es sich um die «20-20-20»-Regel von Dr. Jeff Anshell4. Online findet man zahlreiche Artikel, die auf diese Regel eingehen, allerdings werden keine Mechanismen oder wissenschaftlichen Beweise geliefert, die die Theorie unterstützen . Wenn wir am Bildschirm arbeiten, fokussieren sich unsere Augen auf ein Objekt in unmittelbarer Nähe. Die Augen sind also konstant dem Anpassungsprozess ausgesetzt, und die Bewegung der Augen ist sehr eingeschränkt (wir blinzeln ca. zwei- bis dreimal weniger).

Es wird empfohlen, regelmässige Pausen einzulegen und auf etwas in der Ferne zu schauen, um der visuellen Ermüdung entgegenzuwirken (Quelle: optometrytimes.com)

 

Der psychologische Einfluss

Gemäss der Biophilie-Hypothese wirkt sich der Blick in die Ferne auch positiv auf Emotionen und Stressabbau aus. Dies kommt daher, dass Menschen positiv auf natürliche Umgebungen reagieren, da die Natur das Leben unserer Vorfahren geprägt hatte. Weitsicht hatte damals einige Vorteile: Man konnte nach Gefahren Ausschau halten, Schutz und Nahrung suchen und sich so das Überleben sichern. Das hat zwar alles nicht direkt mit der Sehkraft zu tun, aber es ist durchaus vorstellbar, dass die Freude an einer freien Sicht nach draussen auf diesen psychologischen Effekt zurückzuführen ist.

 

Wichtigkeit der freien Sicht nach draussen bei Gebäuden

Heutzutage verbringen wir 90 % unserer Zeit in Innenräumen. Die Aufgaben in unserem Beruf erfordern meist, dass wir uns während mehrerer Stunden auf eine Sache konzentrieren. Auch die zunehmende Arbeit am Bildschirm trägt zum wachsenden Risiko einer Überanstrengung der Augen bei. Wie kann man sich also an die «20-20-20»-Regel halten und etwas für die Gesundheit der eigenen Augen tun? Es gibt zum Beispiel Apps, die einem regelmässig voreingestellte Benachrichtigungen schicken und daran erinnern, dass man den Augen eine Pause gönnen soll. Zugang zu Fenstern mit freier Sicht nach draussen bietet eine zusätzliche Möglichkeit, den Blick abzuwenden und die Augen sowie den Geist für eine Weile zu entspannen. Interessante und angenehme Aussichten regen ausserdem zu mehr Bewegung der Augen an6 was zu einer guten Regulierung des Wasserhaushalts führt. Nicht zu vergessen, dass einige Aussichten eine wichtige Quelle des natürlichen Tageslichts sind. Ein weiterer Aspekt, der heutzutage so rar ist wie noch nie.

 


1  Eclairage et vision [Forschungsbericht] Notes scientifiques et techniques de l’INRS, R. Floru, 1996

2  Visual Delight in Architecture: Daylight, Vision, and View, Lisa Heschong, 2021

3  Clinical Anatomy and Physiology of the Visual System (Third Edition), Lee Ann Remington, 2012

4  https://www.medicalnewstoday.com/articles/321536#how-to-use-the-20-20-20-rule

5  https://www.optometrytimes.com/view/deconstructing-20-20-20-rule-digital-eye-strain

6  View preferences in urban environments, A. Batool et al., 2020