Industry Insights

Wie kann die Aussicht bewertet werden?

View from interior looking out at the Yard in Chicago

In einer Gesellschaft, in der wir mehr als 90 Prozent unserer Zeit in Räumen verbringen (und seit Beginn der Covid-19-Pandemie sogar noch mehr), belegen zahlreiche wissenschaftliche Studien, wie wichtig die Aussicht für das Wohlbefinden und die Gesundheit der Gebäudenutzer ist. Vor allem der Blick in die Natur wirkt sich positiv auf unsere geistige Leistungsfähigkeit und unser Stresslevel aus. Dieser Aspekt hat sich zu einer entscheidenden Komponente des Sehkomforts entwickelt, die fast ebenso wichtig ist wie der Zugang zu Tageslicht.

Es liegt auf der Hand zu glauben, dass genügend Fenster bereits ausreichen, um den Nutzern diese Aussicht und die damit verbundenen Vorteile zu bieten. Fenster allein sind jedoch nicht die ausreichende Antwort. Es gibt mehrere Elemente, die eine wichtige Rolle spielen:

  • Grösse und Anordnung der Fenster, insbesondere in Bezug auf die Position der Gebäudenutzer im Raum
  • Glastyp: Bestimmte Merkmale wie Lichtdurchlässigkeit, Farbe, spezielle Muster oder Beschichtungen können die Aussicht beeinträchtigen.
  • Elemente, die zur Fassade hinzugefügt werden, wirken sich ebenfalls auf die Aussicht aus: zum Beispiel Drahtgeflechte oder Drahtgitter, Lochbleche oder Markisen.
  • Die Umgebung, die von den Fenstern aus zu sehen ist

Form und Höhe des Gebäudes bestimmen ebenfalls die Aussicht: zum Beispiel der Blick in den Himmel oder auf eine Landschaft in der Ferne.

(a) Verschiedene Aussichten aus demselben Fenster
(Quelle: Daylight and View The influence of windows on the visual quality of indoor spaces, Hellinga, 2013 )

 

(b) Unterschiedlicher Zugang zur Aussicht vom selben Raum aus (Quelle: Windows and Offices; A Study of Office Worker Performance and the Indoor Environment, HMG, 2003)

 

(c) Unterschiedliche Aussichten je nach Fassadendesign und -typ (Quelle: Daylight and View The influence of windows on the visual quality of indoor spaces, Hellinga, 2013)

 

Hier stellt sich folgende Frage: Wie lässt sich die Aussicht in der Theorie und in der Praxis unter Berücksichtigung der oben beschriebenen Parameter quantifizieren? Ebenso wie bei der Bewertung des Energieverbrauchs, der thermischen Behaglichkeit oder des Zugangs zu Tageslicht ist es auch hier entscheidend, Planer und Bauherren bei der Bewertung dieses Kriteriums anzuleiten. Andernfalls wird es schwierig, einen Vergleich zwischen verschiedenen Resultaten zu ziehen. Dann besteht die Gefahr, dass die Aussicht bei der Bauplanung nicht gebührend berücksichtigt werden kann.

Bis heute scheint es keine einheitliche Methode zu geben. Ich würde vorschlagen bestehende Normen und Zertifizierungen zu untersuchen, bevor wir uns mit den Entwicklungen in der Wissenschaft und den Beobachtungen in der Praxis beschäftigen.

 

Zertifizierungen, Normen und Vorschriften

Bei zahlreichen Umweltzertifizierungen ist der Zugang zur Aussicht Bestandteil der Kriterien für den Sehkomfort. Folgende Tabelle enthält die Parameter und Anforderungen, die in den verschiedenen Labels festgelegt sind:

  • LEED V4
    Direkte Sicht nach aussen durch Fensterscheiben bei 75 Prozent aller genutzten Flächen. Die Fensterscheiben müssen eine klare Sicht nach aussen ermöglichen, sie darf nicht versperrt werden durch den Zusatz von Fritten, Fasern, Mustern oder Tönungen, die die Farbbalance stören könnten. 75 Prozent der genutzten Flächen müssen über mindestens zwei der folgenden vier Aussichtskriterien verfügen:
    • mehrere Sichtverbindungen durch die Fensterscheibe in verschiedene Richtungen im Abstand von mindestens 90 Grad
    • Aussichten, die mindestens zwei der folgenden Elemente enthalten: Natur oder Himmel, Bewegung, Objekte, die mindestens 7,5 Meter vom Fenster entfernt sind
    • Unversperrte Aussicht in einer Entfernung, die maximal der dreifachen Kopfhöhe der Fensterscheibe entspricht
    • Aussichten mit einem Sichtfaktor¹ von mindestens 3

 

  • BREEAM New Construction 2016
    95 % der Bodenfläche in einem Gebäude liegt innerhalb von einem Radius von 7 m von einem Fenster mit einer ausreichenden Sicht nach draußen entfernt. Eine ausreichende Sicht nach draußen wird nach BREEAM definiert als eine Sicht aus dem Fenster auf eine Landschaft oder ein Gebäude, die oder das auf Augenhöhe einer sitzenden Person liegt. Für jedes Gebäude wird ein Mindestprozentsatz an Fenstern auf der Grundlage des Abstands zwischen dem Fenster und den Arbeitsplätzen festgelegt.

 

  • HQE Sustainable Building 2019
    Blickwinkel, Betrachtungsabstand und Komponenten der Aussicht (Boden, Landschaft, Himmel) von mindestens 75 Prozent der relevanten Fläche.

 

  • DGNB 2018
    Verfügbare Sichtverbindungen nach aussen.

     

Die kürzlich verabschiedete Norm DIN EN 17037 über Tageslicht in Gebäuden beinhaltet darüber hinaus Empfehlungen zur Aussicht, die auf den vier folgenden Kriterien basiert: Grösse der Öffnungen, horizontales Sichtfeld von einem Bezugspunkt im Innenraum, Abstand zwischen Fenstern und den nächsten Hindernissen im Aussenbereich sowie die Mindestanzahl der Komponenten, die eine Aussicht garantieren (z.B. Himmel, natürliche oder städtische Umgebung, Boden). Die Norm legt ausserdem fest, dass das Glasmaterial des Fensters eine klare, unverzerrte und farbneutrale Aussicht ermöglichen muss. 

 

Wissenschaftliche Arbeiten 

Es wurden mehrere wichtige Forschungsstudien durchgeführt, die sich mit Fenstern und Aussichten sowie der Wahrnehmung der Aussicht durch die Gebäudenutzer befassen. Insbesondere finden sich häufig Verweise auf die Arbeiten des HMG-Konzerns² und die Arbeiten von Veitch³ und Hellinga⁴, die einigen der vorgestellten Labels und Normen als Inspiration bei der Ausarbeitung ihrer Kriterien für die Aussicht gedient haben.

Kürzlich führte J. Mardaljevic mit dem Ausdruck «View Lumen» ein neues Kriterium ein⁵. Es soll die Messung der Aussicht erlauben, die über eine Öffnung bereitgestellt wird. Die Methode gibt den Beleuchtungseffekt wieder, der auf Fensterhöhe von einem sichtbaren Element im Aussenbereich (Boden, Himmel, Hindernis usw.) empfangen wird. Gleichzeitig können die Tageslichtversorgung sowie das Blend- und Überhitzungsrisiko bewertet werden. Der grundsätzliche Vorteil dieser Methode besteht darin, dass sie rein geometrisch und einfach anzuwenden ist. Sie soll nicht unbedingt die bestehenden Kennzahlen zur Bewertung der Aussicht ersetzen, sondern vielmehr einen innovativen und ergänzenden Ansatz bieten. Die Methode wird möglicherweise für die nächste Überarbeitung der Norm DIN EN 17037 und einiger englischer Normen vorgeschlagen, die sich mit der Bewertung der Kriterien für die direkte Sonneneinstrahlung sowie für die Aussicht befassen.

 

Praxis

Neben Labels, Normen oder sogar wissenschaftlicher Literatur, die interessante Empfehlungen und Richtlinien für Planer bieten, haben einige Architektur- und Ingenieurbüros auch eigene Methoden zur Bewertung der Aussicht entwickelt.

Nachstehend ein Beispiel für ein von KPFui entwickeltes Tool:

Quelle: X Information Modeling: Data-Driven Decision Making in the Design of Tall Buildings, Klemperer et al., 2016

 

Das KPFui-Tool, das auf der Grasshopper-Software basiert, ermöglicht eine eingehende Analyse der Umgebung eines Gebäudes, um die Qualität der Aussicht zu bewerten. Das Tool identifiziert sowohl unversperrte Aussichten als auch Aussichten zu interessanten Punkten. Anhand dieser Ergebnisse werden die Aussichten entsprechend ihrem jeweiligen wirtschaftlichen Nutzen eingestuft. Das Ergebnis wird sodann in Kombination mit anderen Kennzahlen wie zum Beispiel der Lichtleistung untersucht, um den endgültigen Entwurf des Gebäudes zu definieren.

 

Grenzen

Aus meiner Sicht gibt es einen Parameter, der systematisch in die Bewertung der Aussicht einbezogen werden sollte, bisher aber nur im LEED Label ausdrücklich erwähnt wird: die Versperrung der Aussicht durch Elemente wie Fritten- oder Ornamentglas oder Sonnenschutzvorrichtungen. Schauen wir uns folgende Fotos an:

Welche Situation ist Ihrer Meinung nach die bequemste und angenehmste? Ich denke, die Antwort liegt auf der Hand. Welchen Sinn haben eine aussergewöhnliche Umgebung oder optimierte Fenster, wenn die Aussicht durch diese Fenster letztendlich doch eingeschränkt oder verändert werden soll? Dass dieser Parameter fehlt oder nur mangelnde Berücksichtigung findet, ist auf die Schwierigkeit zurückzuführen, die Auswirkungen dieser Systeme mit oft komplexen optischen Eigenschaften auf die Versperrung der Aussicht zu messen. Lediglich einige Forschungsarbeiten der Purdue University⁶⁷ haben Metriken zur Bewertung der Durchsicht durch Fenster hervorgebracht, die mit Jalousien und Stoffrollos ausgestattet sind. Diese Metriken werden jedoch meist nur im akademischen Bereich verwendet.

Eine einfache Möglichkeit, Behinderungen der Aussicht in die Parameter für die Gebäudeplanung einzubeziehen, besteht jedoch darin, den Prozentsatz der Zeit im Jahr zu berechnen, in der die Sicht versperrt ist. Mit einigen Tools können Sie sich schnell einen Überblick über das ganze Jahr verschaffen:

 

Beispiel einer Zeitkarte des Sonnenschutzstatus für alle Stunden des Jahres – berechnet mit DIAL+

 

Fazit

Die Methoden, die zur Bewertung der Aussicht verwendet werden, die herangezogenen Kriterien und ihr Komplexitätsgrad können je nach Label, Norm oder Praktiker erheblich variieren. Dennoch ist die Tatsache, dass solche Methoden existieren und auf die Gestaltung eines Raums angewendet werden können, bereits ein grosser Fortschritt, da wir so weitere wissenschaftliche Erkenntnisse zu den Vorteilen gewinnen, die Tageslicht und die Aussicht für unser Wohlbefinden und unsere Gesundheit haben. Aktuelle und künftige Forschungsarbeiten werden unser Verständnis der spezifischen Mechanismen, die dabei eine Rolle spielen, und der Art und Weise, wie diese in die Planung unserer Gebäude einbezogen werden können, weiter vertiefen.

 

Defined in the publication Windows and Offices: A Study of Office Worker Performance and the Indoor Environment, HMG, 2003

2 Windows and Offices: A Study of Office Worker Performance and the Indoor Environment, HMG, 2003

3 A Room with a View: A Review of the Effects of Windows on Work and Well-Being, Farley & Veitch, 2001

4 Daylight and View: The influence of windows on the visual quality of indoor spaces, Hellinga, 2013

5 Aperture-based daylight modelling: Introducing the ‘View Lumen,’ J. Mardaljevic, 2019

6 The impact of venetian blind geometry and tilt angle on view, direct light transmission and interior illuminance. Tzempelikos et al., 2008

7 View clarity index: A new metric to evaluate clarity of view through window shades, Konstantzos et al., 2015