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Der Blick in die Natur fördert unsere geistige Leistungsfähigkeit

Geistige Ressourcen sind stärker gefragt denn je

Heute sind Berufsbilder weit verbreitet, die vielseitige Tätigkeiten verlangen. Darüber hinaus sorgt das heutige Zeitalter der Digitalisierung aufgrund der Fülle an Informationskanälen dafür, dass unser Gehirn mit Informationen überflutet wird wie nie zuvor. In einer Arbeitssituation wird unser Gehirn im Schnitt mit 11 Millionen Bit an Informationen pro Sekunde «beschossen», während lediglich 120 Bit gleichzeitig bewusst verarbeitet werden können.1 Zudem werden wir im Laufe des gesamten Tages etliche Male abgelenkt, das dazu führt, dass unsere Aufmerksamkeit in verschiedene Richtungen zerstreut wird. In einer Büroumgebung kann diese Überflutung mit Informationen jeden Tag in einen mehrminütigen bis mehrstündigen Produktivitätsverlust münden. Dies ist in der nachfolgenden Abbildung dargestellt:

 

The cost of interruptions at work
Die Kosten von Ablenkungen am Arbeitsplatz (Quelle: https://www.visualistan.com/2016/06/how-to-focus-at-work-in-the-age-of-distractions.html)

 

Ein solcher Produktivitätsverlust kann Unternehmen teuer zu stehen kommen: In den USA summieren sich beispielsweise die dadurch entstehenden Kosten pro Jahr auf fast 588 Milliarden US-Dollar.Diese Zahl ist umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, dass fast 90 % der Ausgaben eines Unternehmens für die Personalkosten anstehen. Laut verschiedenen Studien3 kompensieren die Mitarbeiter diese Ablenkungen, indem sie versuchen schneller zu arbeiten. Dafür zahlen sie aber einen hohen gesundheitlichen Preis, der mit mehr Stress, Frustration, Erwartungsdruck und Anstrengung einhergeht. Natürlich steigt dabei auch das Fehlerrisiko.

 

Begrenzte Ressourcen und Erschöpfung

Wer über mehrere Stunden hinweg sehr schnell zwischen verschiedenen Aufgaben wechselt bzw. auf eine bestimmte Aufgabe konzentriert und fokussiert bleibt, dabei allerdings äussere Ablenkungen aktiv ausblenden muss, um u. a. wichtige und interessante Informationen zu filtern, schafft dies nicht ohne bedeutende geistige Anstrengungen.4

 

Unsere kognitiven Fähigkeiten haben Grenzen und können ermüden

 

Allerdings ist diese Ermüdung wenig überraschend, wenn man bedenkt, dass sich das Gehirn ähnlich wie ein Muskel verhält. Unser Gehirn verbraucht mehr als 20 % der Energie, die wir uns täglich zuführen.5 Das ist mehr als jedes andere Organ unseres Körpers benötigt. Unsere geistigen Ressourcen sind also sicher nicht unbegrenzt und erschöpfen sich im Laufe der Zeit langsam aber stetig. Dementsprechend ist unsere Aufmerksamkeits- und Konzentrationsfähigkeit zu Beginn des Tages am höchsten. Je weiter der Tag fortschreitet, desto mehr nimmt diese Fähigkeit ab und die Gefahr von Unaufmerksamkeit und Fehlern steigt.

 

Die Aufmerksamkeit im Blick

Der Begriff «Aufmerksamkeit» bezieht sich allgemein auf verschiedene Prozesse, die es uns ermöglichen, eine Vielzahl kognitiver Aufgaben zu lösen. Dazu gehören z. B. das Planen, Analysieren und Lösen von Problem oder auch das Auswählen und Zusammenfassen von Informationen. Auch wenn uns die Bedeutung des Begriffs offensichtlich und eindeutig erscheint, gibt es tatsächlich mehrere Arten der Aufmerksamkeit.

Die beiden Forscher im Bereich der Umweltpsychologie Rachel und Stephen Kaplan unterscheiden in ihrer Theorie zur Wiederherstellung der Aufmerksamkeitsfähigkeit (Attention Restoration Theory, ART) die zwei folgenden Formen der Aufmerksamkeit:6

  1. Gerichtete Aufmerksamkeit (bzw. «bewusste» oder «willkürliche» Aufmerksamkeit)
  2. Ungerichtete Aufmerksamkeit (bzw. «spontane» oder «unwillkürliche» Aufmerksamkeit)

Die gerichtete Aufmerksamkeit ist eine unserer wichtigsten geistigen Fähigkeiten. Sie erlaubt es uns, uns auf Aufgaben zu konzentrieren, die über einen längeren Zeitraum hinweg eine gewisse Anstrengung erfordern. Dies erfordert, dass wir sowohl externe als auch interne Reize (in Form von Gedanken) unterdrücken. Diese Fähigkeit ist in der Hirnregion des sogenannten Frontallappens im präfrontalen Cortex angesiedelt, der oft als ausführendes Zentrum des Gehirns bezeichnet wird.7

 

Der präfrontale Cortex steuert ausführende Funktionen wie beispielsweise die Aufmerksamkeit, die Handlungsplanung und die Regulation unserer emotionalen Prozesse (Quelle: https://www.mybraintest.org/brain-function-areas-structure-map)

Mit ungerichteter Aufmerksamkeit wird eine passive Aufmerksamkeit bezeichnet. Sie wird automatisch durch Reize gesteuert, die unser Interesse oder unsere Begeisterung wecken.

Der wissenschaftlichen Theorie ART zufolge ist die gerichtete Aufmerksamkeit eine begrenzte Ressource. Die hohe Konzentrationsfähigkeit, die die gerichtete Aufmerksamkeit verlangt, lässt uns ermüden.Infolge dessen nimmt unsere Aufmerksamkeitsfähigkeit ab und wir sind leichter abzulenken. So fällt es uns zunehmend schwer, den Überblick über unsere Aufgaben zu bewahren, Entscheidungen zu treffen oder uns unterlaufen auch häufiger Fehler. Zudem sind wir aggressiver und lassen uns mehr von den Emotionen leiten.Trotzdem versuchen viele, diese Symptome zu ignorieren und weiter ihrer Arbeit nachzukommen. Dies ist aber ein sicherer Weg in ein Burn-out.

 

«Regenerierender» Tätigkeiten

Zum Glück gibt es einen einfachen Weg die gerichtete Aufmerksamkeit zu regenerieren: Sichtkontakt zur Natur. Die Betrachtung der Natur und umliegender Landschaften aktiviert unsere unwillkürliche Aufmerksamkeit, sodass die gerichtete Aufmerksamkeit «ruhen» kann und «regeneriert» wird.

 

 

Der Blick auf die Natur erfordert keine geistige Anstrengung und ermöglicht deshalb die Wiederherstellung unserer Aufmerksamkeitsfähigkeit.

 

Bereits natürliche Umgebungen in unserer Nähe wie Wälder, Parks, Gärten, Gewässer oder Grünflächen haben positive Auswirkungen auf unsere Aufmerksamkeit und das selbst in einem städtischen Umfeld.10, 11 Zudem reicht bereits eine sehr kurze Zeitspanne von wenigen Sekunden bis einigen Minuten aus,12, 13 um die gerichtete Aufmerksamkeit zu regenerieren. Ein kurzer Blick aus dem Fenster in die umgehende Landschaft wirkt sich bereits positiv auf den Regenerationsprozess aus.

Bei der ART handelt es sich um eine der bis heute am besten belegten Theorien, die die regenerierenden Auswirkungen des Kontakts mit der Natur auf den Menschen erklären. Sie stützt sich auf zahlreiche empirische Studiens14, in denen die geistigen Fähigkeiten von Versuchspersonen überprüft wurden, nachdem sie Kontakt zu natürlichen Umgebungen hatten. Dies erfolgte entweder über den Blick aus einem Fenster, durch direkten Aufenthalt in natürlichen Umgebungen oder sogar anhand von Fotos oder Videos.15

 

Bereits ein kurzer Blick auf die Natur trägt zur Wiederherstellung unserer geistigen Fähigkeit bei.

 

Auswirkungen auf die Gestaltung von «regenerierenden» Umgebungen

Dennoch begünstigen viele Büroumgebungen eine geistige Ermüdung. Und wie bereits erwähnt, können sich daraus bedeutende wirtschaftliche Nachteile für ein Unternehmen ergeben. Somit ist es wichtig, den Mitarbeitenden Möglichkeiten zu bieten, sich in kleinen Pausen zu erholen, damit sie sich wohler fühlen und leistungsfähiger und motivierter sind.17 Dazu können beispielsweise Erker- oder Panoramafenster dienen, die einen grosszügigen Blick nach draussen zulassen. Sie ermöglichen es den Mitarbeitenden jederzeit, der Arbeit im Tagesverlauf mental sehr leicht und ungezwungen zu entfliehen.18 Zudem stellen sie eine hervorragende Tageslichtquelle dar, deren vorteilhafte Auswirkungen auf das Wohlbefinden und die Gesundheit nicht mehr eigens erläutert werden müssen. Es bietet sich auch an, zusätzliche Pflanzen im Inneren der Büroumgebung aufzustellen. Diese haben ebenso positive Auswirkungen auf das Wohlbefinden der Büronutzer, auch wenn diese geringer ausfallen als ein Spaziergang in der Natur oder einer Sichtverbindung nach draussen.19

 

Ein ungestörter Blick in die Natur ermöglicht auch in Innenräumen erholsame "Mikro-Erlebnisse".

 

Auch in Schulen stellt die gerichtete Aufmerksamkeit die wichtigste Ressource für anhaltende Konzentrationsfähigkeit und effizientes Lernen dar. Schulische Misserfolge sind oft auf einen Mangel darauf zurückzuführen. Daher ist es wichtig, auch in Klassenzimmern, Fluren, Eingangs- und Speisebereichen für einen freien Blick auf die Umgebung zu sorgen.20

In Pflegeeinrichtungen kann sich die Aussicht auf die Natur ebenfalls positiv auf ältere Menschen mit verringerter Aufmerksamkeitsfähigkeit oder auf Patienten auswirken, die beispielsweise nach einer schweren Operation unter kognitiven Störungen leiden.21

Da der Anteil der Stadtbevölkerung übrigens bis zum Jahr 2050 weltweit 70 % betragen wird, müssen Entwicklungs- und Städtebauplaner Lösungen finden, um die Natur in die Bauprojekte einzubinden. Angesichts der zunehmenden Verstädterung trägt die Biophilie-Bewegung, die auf der Überzeugung beruht, dass der Mensch den Kontakt zur Natur benötigt und zahlreiche Vorteile daraus ziehen kann, seit Jahren zur zunehmenden Begrünung von Städten weltweit bei. Mehr und mehr Verbände, Architekten, Unternehmen und Bürger erdenken neue Strategien zur Steigerung des Wohlbefindens. Dazu gehört unter anderem das Pflanzen von Bäumen, das Anlegen von Stadtparks und die Begrünung von Dächern, Wänden und Fassaden.

 


 

  1. The Organized Mind : Thinking Straight in the Age of Information Overload, Daniel J. Levitin 
  2.  Spira, J. B., & Feintuch, J. B., The cost of not paying attention: How interruptions impact knowledge worker productivity. New York, NY: Basex, Inc. 2005
  3. Gloria Mark, Daniela Gudith, Ultich Klocke, The cost of Interrupted work : more speed and stress
  4. www.theguardian.com/science/2015/jan/18/modern-world-bad-for-brain-daniel-j-levitin-organized-mind-information-overload
  5.  D.D Clarke, L Sokoloff, Circulation and energy metabolism of the brain, Basic Neurochemistry: Molecular, Cellular and Medical Aspects, Lippincott-Raven, Philadelphia (1999), pp. 637-669
  6.  Kaplan, R. & Kaplan, S., The Experience of Nature: A psychological perspective. New York: Cambridge University Press, 1989
  7.  Amy F.T. Arnsten, The Neurobiological Basis of Attention-Deficit/Hyperactivity Disorder, Primary Psychiatry, 2009
  8.  Kaplan, S.,The Restorative benefits of nature: Toward an integrative framework, Journal of environmental psychology (1995) 15, 169-182
  9.  Rita Berto,The Role of Nature in Coping with Psycho-Physiological Stress: A Literature Review on Restorativeness, Behav. Sci. 2014 , 4, 82 -409
  10.  R. Kaplan, S. Kaplan, R.L. Ryan, With People in Mind: Design and Management of Everyday Nature, Island Press, Washington, DC (1998)
  11. Dmitri Karmanov, Ronald Hamel, Assessing the restorative potential of contemporary urban environment(s): Beyond the nature versus urban dichotomy, Landscape and Urban Planning 86 (2008) 115–125
  12.  Kaplan R., The role of nature in the context of the workplace, Landscape and Urban Planning, 26 (1993) 193-201
  13.  Lee K.E. et al, 40-second green roof views sustain attention: The role of micro-breaks in attention restoration, Journal of Environmental Psychology 42, 2015
  14.  Kaplan S., Berman M.G.,Directed Attention as a Common Resource for Executive Functioning and Self-Regulation, 2017
  15.  Gregory N. Bratman,J. Paul Hamilton, and Gretchen C. Daily, The impacts of nature experience on human cognitive function and mental health, Ann. N.Y. Acad. Sci. ISSN 0077-8923
  16.  R.S. Ulrich, Aesthetic and affective response to natural environments, In I. Altman & J. Wohlwill (Eds.), Human Behavior and Environment, Vo1.6: Behavior and Natural Environment, New York: Plenum, 85-1 25
  17.  Kate E.Lee, Leisa D.Sargent, Nicholas S.G.Williams, Kathryn J.H.Williams, Linking green micro-breaks with mood and performance: Mediating roles of coherence and effort, Journal of Environmental Psychology, 2018
  18.  R. Kaplan,The Nature of the View from Home: Psychological Benefits, Environment and Behavior 2001; 33; 507
  19.  Adeleh Nejati, Susan Rodiek, Mardelle Shepley, Using visual simulation to evaluate restorative qualities of access to nature in hospital staff break areas, Landscape and Urban Planning Volume 148, April 2016, Pages 132-138
  20.  Dongying Li, William C. Sullivan, Impact of views to school landscapes on recovery from stress and mental fatigue, Landscape and Urban Planning 148 (2016) 149–158
  21.  B Cimprich, Development of an intervention to restore attention in cancer patients, Cancer Nursing, 16 (1993), pp. 83-92